Pfadfinderin in Natur und Gesellschaft, Ex-Kommunalpolitikerin
2044 – ich lebe mittlerweile in der Schweiz. Was ich früher aufgrund familiärer Verbindungen nach Urlauben in Erwägung gezogen hatte, ist den politischen Verhältnissen in Deutschland geschuldet. Seit zehn Jahren leben mein Mann und ich in einer abgelegenen Hütte in den Bergen. Einsam, einfach, aber sicher. Heizen müssen wir nicht mehr, es gibt keinen kalten Winter mehr, wie früher. Dafür gibt es monatelang kaum Wasser, manchmal regnet es jedoch sinnflutartig, so dass wir das Wasser kaum auffangen können. Die Folgen des Klimawandels sind längst da. Verwandte haben die Hütte für uns angemietet. Wir lassen uns nicht oft im Tal blicken, auch die Schweiz hat ihre Neutralität auf ein Mindestmaß schrumpfen lassen und die Gefahr als Deutsche mit politischem Verfolgungshintergrund aufzufliegen, ist groß. Eine Ausweisung sehr wahrscheinlich die Folge. Die Rechtsextremen, die 2029 die Mehrheit im Bundestag übernahmen und den Staat in rasender Geschwindigkeit umbauten, hatten bereits früher in der Schweiz Kontaktpersonen und Geldgeber. Geld kennt keine Grenzen, dass war schon im zweiten Weltkrieg so. Menschen ohne Geld – scheitern daran. Mit den wichtigsten Dingen: Lebensmittel, Medikamente und technisches Gerät für den Nachrichtenempfang, die Kommunikation und mit Informationen versorgt uns unser Sohn, der uns als junger Flüchtling vor 30 Jahren „adoptierte“. Er selbst war nach Folter im Gefängnis aus seinem Land geflohen, lernte schnell deutsch, arbeitete viel und schloss eine Ausbildung als Mechatroniker ab. Wir haben ihn in dieser Zeit gerne unterstützt. Gut qualifiziert war er bald eine gefragte Fachkraft. Die Jahre davor, musste er sich als Geflüchteter immer wieder hinten anstellen. Als er nach mehrjährigem Verfahren immer noch nicht seine deutsche Staatsbürgerschaft hatte und zunehmend an der Bürokratie verzweifelte, wanderte er in die Schweiz aus. Dort stieg er mit seiner Qualifikation beruflich schnell auf. Mittlerweile hat er die Schweizer Staatsbürgerschaft, denn Fachkräftemangel ist auch hier ein Thema. Das wir nach einer Zufallsbegegnung zu einer Familie zusammen gewachsen waren, erweist sich jetzt als Glücksfall. Vor allem nachdem wir entschieden hatten, nach einem Besuch meines Cousins in der Schweiz nicht mehr nach Deutschland zurück zu kehren. Ein Verbleib war für uns zu gefährlich geworden.
Menschlichkeit, Solidarität waren Fremdworte geworden, die Corona-Krise hatte Querdenker, Querlenker und Krisengewinnler politisch nach oben gespült. Prof Heitmeyer hatte bereits im letzten Jahrhundert mit seinen Forschungsarbeiten „Deutsche Zustände“ gezeigt, dass 20 % in allen Gesellschaftsschichten menschenfeindlich denken. Diese Basis machte sich die NAfD zu nutze, weil die Mehrheit sich nicht genügend gegen diese gesellschaftlichen Zersetzungen stemmte.
Meine Netzwerke haben politisch lange dagegen gearbeitet, doch konnten nicht genügend Menschen mitziehen. Zu groß waren Ängste, zu groß war der Glaube es würde schon alles gut gehen. Immer mehr aktive Menschen verliessen das Land.
Zu meinen politischen Netzwerken habe ich immer noch Kontakt. Das ist mir wichtig, auch wenn wir sehr vorsichtig sein müssen. Ich war neben der Kommunalpolitik in der Jugendverbandsarbeit aktiv, in einem kleinen, politisch linken Pfadfinderverband. Dort einte uns das Engagement für eine demokratische, offene Gesellschaft, in der Kinder und Jugendliche selbstbestimmt leben können und an der Gesellschaft partizipativ teilhaben können. Gemeinsam mit anderen Jugendverbänden unterstützten wir damals das Verbotsverfahren gegen die NAfD, die vom Verfassungsschutz nur in Teilen als rechtsextrem eingestuft wurde. Wir wollten die Überprüfung eines Verbots, da auch viele Jurist:innen ausdrücklich warnten, dass diese Partei insgesamt demokratiezersetzend und rechtsextrem ist. Bereits früh bekamen wir die Auswirkungen dieser Partei zu spüren. Ich beriet einen Kollegen, der in Thüringen als Bildungsreferent bei einem Kreisjugendring arbeitete. In Kommunalparlamenten war die Partei bereits stark vertreten und traf dort auf willfährige Helfer. Kreisjugendringe waren damals freie Zusammenschlüsse von Jugendgruppen und -verbänden, über Sport, Musik, Pfadfinder:innen etc. Mittlerweile sind sie verboten. Der Einfluss dieser Partei und die Zusammenarbeit mit konservativen Parteien, sorgte früh dafür, dass dem Kreisjugendring Zuschüsse gekürzt wurden. Die einzige hauptamtlich beschäftigte Person musste gehen. Gerichtliche Auseinandersetzungen waren kurzfristig erfolgreich, aber unsere Basis wurde immer kleiner. Aus anderen Kreisen vernahmen wir ähnliche Erfahrungen. Die politische Kraft der Zivilgesellschaft sollte beschnitten werden, damit der Protest immer kleiner wurde. Ob den gemässigten Konservativen damals klar war, dass sie die Spur bereiteten, auf der sie selbst später ausglitten?
Kluge Menschen begannen die analogen Netzwerke nachhaltiger zu machen, statt in den digitalen sozialen Netzwerken sich in der Kommentarfunktion abzuarbeiten. Schreiben gegen Extremismus nützt wenig. sich treffen, mit Menschen reden, sich verbünden und organisieren, schon.
In der Kommunalpolitik gab es in dieser Zeit endlose Diskussionen um das fehlende Geld. Vor allem die soziale und kulturelle Infrastruktur wurde radikal zusammen gekürzt. Frauen waren in den Kommunalparlamenten kaum vertreten. Solidarität, Menschlichkeit, Zukunftspolitik, Beachtung des Klimawandels, auch hier Fehlanzeige! Jeder hielt das bisschen vermeintliche Macht fest, dass nachher von der Partei übernommen wurde. Die Partei hatte leichtes Spiel, um nachher ihre undemokratischen Strukturen umzusetzen. Viele machten mit, schwammen im Strom der Partei. Mich ekelte es an.
Ich habe viele Jahrzehnte Menschen begleitet, die den Holocaust überlebt hatten, sowie Geflüchtete, die aus politischen Gründen ihr Land verlassen mussten. Vor Augen habe ich eine junge Frauenrechtlerin aus Afghanistan, die mit ihrem kleinen Sohn und Mann im August 2021 gerade noch fliehen konnte, bevor die Taliban erneut die Macht übernahmen.
All diese Menschen haben mir von ihren Erfahrungen erzählt. Es gibt viele Parallelen. Zunächst werden Menschengruppen, z.B. Geflüchtete, Arme und Kranke diskriminiert, dadurch isoliert, die Mehrheit der Bevölkerung durch Angstmacherei und Falschinformationen aufgehetzt, während der Abbau demokratischer Strukturen stattfindet.
Engagierte, politische Menschen und Gruppen die zum Beispiel Demonstrationen organisierten, Aufrufe starteten, politische Bildungsveranstaltungen und Festivals organisierten, Kulturtreibende, die aufklärten, all diejenigen, wurden in Deutschland damals als links-grün-versifft diffamiert. Stereotypen, die von vielen schnell übernommen und verbreitet wurden. Die Erhöhung der eigenen Person und Erniedrigung der anderen, wem nützt es? Das wurde vielen erst später klar, als sie feststellten, dass sie nicht in der Gewinnerrolle waren.
Wir haben in unseren politischen, gesellschaftlichen Netzwerken zusammengehalten, sind auf die Strasse gegangen und haben öffentlich agiert, solange es in Deutschland möglich war. Heute führen wir unseren Kampf für Demokratie im Verborgenen weiter, aber wir sind da, wir warten auf unsere Chance.
Die Erinnerungen an die Begegnungen mit den Holocaustüberlebenden Eva und Gotthold, mit Stacek, mit Heinz, mit Felix und mit Asher geben mir Kraft weiter zu arbeiten für die Rückkehr zur demokratischen, solidarischen Gesellschaft. Bist du dabei?
Stephanie Otto, 81 Jahre, Bergell/Schweiz